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OS66.1
Gelungene Nachverdichtung
in Stuttgart

 

Nachverdichtung, Gebäudeaufstockungen – das sind Schlüsselwörter, wenn es darum geht, die Wohnraumsituation in den metropolen Innenstädten zu lösen. Dass dies keine Kompromisslösungen sein müssen, im Gegenteil sogar zu ganz individueller innovativer Architektur führen kann, zeigt konzeptionell und ästhetisch beeindruckend das Projekt OS66.1 in Stuttgart-Mitte.

Die Aufgabe
Olgastraße 66/1, eingebettet in das urbane Leben zwischen Leonhards- und Bohnenviertel liegt das Stadthaus. Der Bauherr erwirbt 2010 das dreistöckige Rückgebäude, erbaut 1930, um seinen Lebensalltag in die Innenstadt zu verlagern.

Hier in Stuttgart-Mitte gelten noch die städtebaulichen Regeln von 1935, welche Grundstücksausnutzung, Gebäudetiefe und -höhe, Geschossigkeit, Dachform definieren.

Der Bauherr wünschte sich eine maximale Ausnutzung des innerstädtischen Grundstücks und möchte maximale Wohnfläche erzeugen. Für sich möchte er eine moderne Stadtwohnung fürs Alter im Dach, eine Erschließung mit Lift und genug Parkmöglichkeiten für sich und die Bewohner des Hauses. Der Bebauungsplan erlaubt drei Vollgeschosse und ein Dachgeschoss.

Für eine Baugenehmigung sind Abstandsflächenbaulasten einzutragen, zu berechnen und abzulösen. Da das Gebäude nicht direkt an die öffentliche Straße angebunden ist und ein vorliegendes Grundstück überfahren werden muss, ist es notwendig, die Grunddienstbarkeit mit dem Vordergebäude in eine Überfahrtsbaulast umzuwandeln, um so privatrechtlich das Wegerecht dauerhaft zu sichern – und zwar an das Grundstück gebunden, unabhängig welche Personen Eigentümer sind.

 

Fotos: Brigida Gonzalez; Zeichnungen: g2o

Die Lösung
Ein alter Anbau mit Garage zum Osten wird abgebrochen, um Raum für einen unterirdischen Parklift mit ausreichender Anzahl an Stellplätzen zu schaffen.  Das fertige Gebäudekonzept umfasst schließlich fünf Etagen – zwei mehr als zuvor – mit zwei Einliegerwohnungen im UG, einer Büroetage im EG, einer Geschosswohnung im 1. OG und einer zweigeschossigen Dachwohnung darüber, welche teilbar sind. Es ergab sich die Möglichkeit, den neuen Aufzug außerhalb, gesondert vom Gebäude, als eigenständiges Bauwerk zu platzieren, außerhalb der dadurch kompakteren beheizten Hülle.

Der Entwurf
Das Stuttgarter Architekturbüro g2o konzipierte das Gebäude als kompakte Skulptur, speziell für diesen einen Ort in einem speziellen Raum. Um den skulpturalen Charakter zu betonen, war früh klar, dass die gesamte Hülle als eine Form, in einer Farbigkeit wirken soll.

Durch den Umgang mit dem Bestand entstanden individuelle Lösungen für die Raumaufteilung und bei Detaillösungen. Die glatte Dachhaut wurde mit glattem 1 - 1,5 mm Putz visuell verbunden. Es war von Anfang an klar, dass dieses Gebäude nur an diesem einen Ort in der Welt stehen wird, entsprechend wurden für alle Fragen die richtige Lösung erarbeitet.

Fotos: Brigida Gonzalez; Zeichnungen: g2o

Die Konstruktion
Da die Pläne des vorhandenen Gebäudes – auch der Statik –verschollen sind, wurde die finale Statik während der notwendigen Entkernung und der anschließenden Rohbauphase geklärt und neu berechnet.  Das Untergeschoss bestand aus Backsteinaußenwänden auf einer Betonfundamentierung, die Decke über dem UG aus Stahlträgern, ausgefacht mit Beton. Die Außenwände des EG und des 1. OG bestanden aus Backstein, teilweise reduziert mit Stahlträgern und einer Stahlbetonstütze in der Gebäudemitte. Die Decke über dem EG ist im Wesentlichen eine Betonfertigteildecke, ausgefacht mit Bimssteinen. Das alte Dach war eine konventionelle Holzsparrenkonstruktion mit aufgelegten Ziegeln. Die Decke vom 1. OG und alles oberhalb der Decke über dem 1. OG wurde abgebrochen. Das Untergeschoss wurde um 60 cm abgegraben, um eine neue Bodenplatte und ausreichend Dämmung für eine Fußbodenheizung einzubauen. Wegen den zwei neuen, zusätzlichen Wohnetagen wurde die Statik des Gebäudes von der Gründung aufwärts erneuert: Auf bestehende Fundamente erfüllen nun neu eingefügte Betonscheiben die horizontale Aussteifung.
Ab der 1. Etage wurde mit einer Holz-Stahl-Konstruktion auf dem bestehenden Massivbau das Gebäude aufgestockt. Stahlrahmen wurden aufgestellt, Außenwände wurden mit Holzrahmen per Kran an die richtigen Stellen gehoben und miteinander verschraubt. Holz-Deckenelemente mit fertiger Oberfläche wurden auf die Konstruktion aufgelegt.
So ging es im Trockenbau geschossweise in die Höhe. Auf die beplankten Holzrahmen wurden Dämmständer aufgeschossen, die wiederum mit 3-Schicht-Platten verschalt wurden. Die fertige Hülle erhält eine Polyurethan-Spritzbeschichtung mit Deckanstrich.

Fotos: Brigida Gonzalez

Der Innenausbau
Während das Gebäude außen einen Maßanzug erhielt, wurde innen nach Anforderung ausgebaut. Dominierendes Gestaltungselement auf 4 Etagen ist Zementestrich mit Zuschlag aus dem Rhein, welcher als Veredelung geschliffen und mit Öl und Wachs versiegelt wurde. Auf allen Etagen wurden Einbaumöbel individuell entworfen und angefertigt. Aber auch vorhandene Möbel der Bewohner wurden teilweise in die Raumgestaltung integriert.

Die Energieversorgung
Ein günstiges Volumen/Außenhülle-Verhältnis war Ziel des Energiekonzeptes.Hieraus entwickelte sich die Idee, das Treppenhaus außerhalb der beheizten Hülle zu bauen. Um die Transmissionswärmeverluste zu minimieren, erfolgten dämmende Maßnahmen:
1. Verputzte Dämmung aus Mineralwolle auf Backstein und Beton
2. Zellulosedämmung, welches die Dämmständerkonstruktion und die Holzrahmenbauweise ausfüllt
3. Passivhaustaugliche Fenster im unteren Bereich
4. Hochwertige Fenster im Dach

Den Luftwechsel für jede Einheit steuern dezentrale Be- und Entlüftungsgeräte, zum Teil sichtbar oder in Decken und Wände integriert. Die Aggregate filtern die Luft. Der Luftaustausch erfolgt stündlich. KNX-Technik sorgt mit smarter
Vernetzung für exklusiven Wohnkomfort. Die Beleuchtung wurde komplett mit energiesparender LED ausgestattet. Das Gebäude erfüllt rechnerisch den Passivhausstandard.

Der Außenbereich
Aus konstruktiven Aspekten heraus wurde auf eine Entsiegelung der Hoffläche verzichtet. Dafür entschieden sich die Architekten für eine kontrollierte Entwässerung. Ein Teil des Hofes wurde mit alten, großen Steinen gepflastert, der Rest des Hofes wurde asphaltiert, ebenfalls mit dem bunten Zuschlag aus dem Rhein – so verwächst gestalterisch das Innere und Äußere des Gebäudes.
Am Zugang zur Außentreppe wurde ein amerikanischer Amberbaum gepflanzt – der „Liquidambar styraciflua“. Hinter dem Aufzug wurde ein Beet mit verschiedenfarbigen Hortensien angelegt.

OS66.1 zeigt, dass Nachverdichtung nicht nur Sinn macht, sondern auch ästhetisch ansprechend sein kann. Zu Recht wurde das Projekt mit dem Hugo-Häring-Preis 2020 ausgezeichnet.
© Autor: Klaus Bossert

Fotos: Brigida Gonzalez