Skip to main content

„Dichte ohne architektonische und funktionale Qualitäten ist grausam“

Interview mit Markus Müller,
Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg

Seit 2014 ist Markus Müller der Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg. Zu den zahlreichen berufspolitischen und baukulturellen Aktivitäten unter seiner Ägide zählen viel beachtete Symposien zu neuen Denkansätzen in der Stadt- und Regionalplanung. Als Mitinhaber eines Architekturbüros arbeitet Markus Müller gleichermaßen im Bereich von Städtebau, Architektur und Innenraumgestaltung.
Der 57-Jährige setzt sich mit größtem Engagement für qualitätvolles Planen und Bauen ein. In seine Amtsperiode fallen Initiativen wie die Beteiligung an der schlagkräftigen landesweiten Wohnraum-Allianz, die Gründung des Vereins zur Rettung der Multihalle in Mannheim oder die Weichenstellung für die IBA 2027 StadtRegion Stuttgart, bei der die Architektenkammer Mitgesellschafterin ist. Im folgenden Interview nimmt er Stellung zu aktuellen Themen.

Markus Müller
Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg

Foto: Architektenkammer Baden-Württemberg

Herr Müller, die Architekten stehen derzeit vor großen Herausforderungen. Bauplätze sind überall knapp. Die Lösung für viele ist die Nachverdichtung. Wie sehen Sie das?
Das stimmt. Die Flächenreserven neigen sich dem Ende zu. Nicht nur im Wohnungssektor, sondern auch im Gewerbe, bei Verkehrsflächen, in der Landwirtschaft und für die Energieerzeugung. Baden-Württemberg gibt es blöderweise nur einmal. Eine hohe Grundstücksausnutzung spart Ressourcen: beim Flächenbedarf und in der Infrastruktur. Kompaktheit ermöglicht auch effizientere Bauweisen – angesichts des Arbeitskräftemangels nicht zu unterschätzen – und ist kostengünstiger. Für die Lebensqualität ist wichtig: Dichte ohne architektonische und funktionale Qualitäten ist grausam.

Es gibt Bestrebungen, die Begrenzung für die Höhe von Wohngebäuden zu kippen beziehungsweise zu erhöhen.
Wie stehen Sie dazu?
Mich überrascht, dass in der Wohnungsbau-Debatte immer wieder sehr schlichte Argumente vorgetragen werden. Die zulässigen Höhen von Gebäuden werden schon immer in Bebauungsplänen städtebaulich hergeleitet und festgesetzt oder sie leiten sich aus der Umgebungsbebauung ab. Hier gibt es nichts zu kippen. Will eine Kommune in einem Gebiet höhere Gebäude zulassen, muss sie nichts anderes tun, als darüber in einem neuen Bebauungsplan-Verfahren Konsens herbeizuführen.

Braucht es dann ein neues, zusätzliches Recht auf Tageslicht für alle Bewohner, auch in den unteren Etagen?
Die Abstandsflächenregelungen der LBO beziehen sich genau darauf. Werden diese Abstandsflächen unterschritten, ist eine Verschattungssimulation nach DIN 5034 durchzuführen. Hier wird überprüft, ob die Mindestbesonnung gegeben ist. Unabhängig davon zeichnet sich gute Wohnungsbau-Architektur dadurch aus, dass alle Wohnungen eines Quartiers gute natürliche Lichtverhältnisse haben.

Gibt es bei der Nachverdichtung Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Zuerst einmal nicht. Allerdings unterscheiden sich die Marktsituationen gravierend. In den meisten Städten Baden-Württembergs sind Grundstücke fast nicht mehr frei verfügbar. Die Preise sind entsprechend hoch. Die Akteure im Markt – Kommunen und Immobilienwirtschaft – sind darauf weitgehend eingestellt, so dass hier differenzierte städtebauliche Mittel der Bodenpolitik angewendet werden. Das ist auf dem Land noch nicht flächendeckend der Fall.

Sie selbst sind Stadtplaner. Inwieweit spielt das derzeitige Zauberwort Nachhaltigkeit auch für die Architekten eine Rolle?
Die Architektenkammer Baden-Württemberg war Gründungsmitglied der „Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen e.V.“. In diesem Think Tank wird seit über zehn Jahren das theoretische und praktische Wissen über zukunftsfähiges Bauen zusammengetragen. Es geht dabei nicht nur um Energieverbräuche, sondern um die CO2-Emmisionen über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes. Es stehen aber auch die sozialen und ökonomischen Eigenschaften von Gebäuden im Fokus, zum Beispiel der Schadstoff-Freiheit oder der barrierefreien Zugänglichkeit.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, die – auch durch den Klimawandel mit verursachte – Zunahme der Hitze in den Innenstädten zu stoppen oder gar zu reduzieren?
Ganz naheliegend muss der Feuchtehaushalt von Städten in den Blick genommen werden: die Speicherfähigkeit der Böden muss durch Entsiegelung gesteigert und die Anzahl an Bäumen muss erhöht werden. Der sommerliche Wärmeschutz in Gebäuden muss so sichergestellt werden, dass Klimaanlagen nicht zusätzliche Wärme nach außen abstrahlen.

In Stuttgart ist bald Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet möglich. Zudem werden immer mehr Stimmen laut, die die Städte ganz autofrei haben wollen. Was würde dieser Schritt für die Stadtplanung bedeuten?
Wir sind schon lange weg von der „autogerechten Stadt“. Vollständig autofrei werden die Städte aber nicht funktionieren. Es ist also eine Frage der Priorisierung der Nutzungsansprüche an die Stadt. In der Stadtplanung diskutieren wir deshalb über alternative Mobilitätsangebote, die besser funktionieren müssen, als individuelle motorisierte Mobilität. Und wir diskutieren über die „15-Minuten-Stadt“, also die Kultur der Grundversorgung im Quartier. Daraus entwickelt sich eine enorme Komplexität: Wie bringen wir das Wohnen zurück in die Innenstädte? Wie ist die Zentralisierung im Einzelhandel mit einer dezentralen Grundversorgung zusammenzubringen?

Wie sehen die Innenstädte im Jahr 2050 aus? Wagen Sie eine Prognose.
Die Orte, die wir heute planen, sind die Städte von 2050. Wir können die Antworten nicht auf irgendwann verschieben. Genau deshalb haben Stadt und Region Stuttgart gemeinsam mit der Universität und der Architektenkammer die iba 2027 StadtRegion Stuttgart gegründet. Wir müssen unser Wissen über zukunftsfähige Stadtmodelle in die Realität bringen – über Nutzungsvielfalt, nachbarschaftliche Konzepte im Quartier, Klimaresilienz, Ressourcenschonung: Weiternutzung und Umnutzung des Bestandes, qualitätvolle Dichte, die „produktive Stadt“ und vieles mehr. Wir sehen im Übrigen im weltweiten Kontext: die in der baden-württembergischen Kommunalverfassung verankerte Selbstverwaltungslogik der Städte und Gemeinden ist ein unglaublich leistungsfähiges
Steuerungsinstrument der Stadtplanung. Ich kann nur dafür werben, den Wert der demokratisch und föderal organisierten Planungs- und Entscheidungskultur unseres Landes nicht zu unterschätzen. Demokratien sind lernfähig, sie sind gelebte Diversität.

Wenn Sie einen Wunsch an die Politik hätten, wie sähe der aus?
Von der Bundespolitik wünsche ich mir, die Ebene der ewig wiederholten Zielformulierung zu verlassen und sich auf die operative Ebene zu begeben, in den Dialog mit der Realität des Planens und Bauens. Ich bin optimistisch, dass die vielfältigen Transformationsprozesse, vor denen wir stehen, vielfältige Innovationen hervorbringen werden. Dazu brauchen wir in vielen Feldern des Planens und Bauens einen regulatorischen Rahmen, der das überhaupt möglich macht. Da hat die Politik noch einiges vor sich.
Im Land wünsche ich der Politik den Mut, den im Koalitionsvertrag vereinbarten Weg konsequent zu gehen.
Den Kommunen rufe ich zu: nicht zu wenig ehrgeizig sein!

Die Fragen stellte Karl Gutbrod.

Gelungene Nachverdichtung in der Stuttgarter City, Olgastraße 66/1, durch das Architekturbüro g2o. Das archtektonisch anspruchsvolle Gebäudekonzept umfasst schließlich fünf Etagen – zwei mehr als zuvor – mit drei Einliegerwohnungen im UG, einer Büroetage im EG, einer Geschosswohnung im 1. OG und einer Dachwohnung mit zwei Geschossen darüber.

Fotos: Brigida Gonzalez

Innenhof vor der Nachverdichtung

Foto: g2o