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Wie wohnen wir in Zukunft?

Vor Kurzem quellte das Thema Verbot von Einfamilienhäusern im Ländle zum Wahlkampfthema auf. Doch geht es bei dem Thema „Wie wohnen wir in Zukunft?“ nicht um Verbote – Visionen sind gefragt. Der Trend geht zum Wohnen in der Stadtmitte. Kurze Wege zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Die Menschen wollen am urbanen Leben teilhaben. Doch Immobilienpreise und Grundstücksangebote drängen die Leute in die Vororte und umliegende Gemeinden. Der Wohnungsbedarf nimmt zu, das Bauland ist begrenzt. Von Architekten und Städteplanern werden Ideen für neue Wohnformen gefordert wie schon lange nicht mehr. Politische Entscheidungen dürfen nicht länger verschoben werden. Wie können architektonische Perspektiven aussehen?

Unterschiedliche Lösungen bieten sich an: Nachverdichtung und Aufstockung im Bestand, mehr Flexibilität durch modulares Bauen? Oder müssen wir uns in Zukunft an weniger Wohnfläche gewöhnen? Ist Bauen in maximale  Höhen
eine Lösung – oder müssen wir die Stadtrandgebiete besiedeln und mehr freie Fläche versiegeln?

Wir haben Architekten aus der Region Stuttgart um ihre Meinung gefragt.

Die Architektur ist ein wichtiges menschliches Artefakt, sie vermittelt uns Zeit, Ort, Geschichte, kulturelle Werte und Fähigkeiten von Gesellschaften. Diese wichtigen Aspekte gilt es zu erhalten und zu überhöhen. Verkommt die Architektur, wird sie kommerzialisiert. Wird sie pragmatisiert, so zeigt auch dies die kulturelle Verfassung unserer Gesellschaften. Das Thema der Wohnungsknappheit ist weniger ein Platz- als ein Bodenwertproblem.
Das Eigentum an Grund und Boden war eine Fehlentwicklung, die Ressource ist endlich. Und ebenso wie Wasser, Luft und Licht dürfte sie nicht privatisiert werden. Erbpacht wäre eine Lösung gewesen. Doch nun müssen wir mit der heutigen Situation umgehen, Wohnraum und Wohneigentum auch für die weniger privilegierten Mitglieder unserer Gesellschaften schaffen. Günstiger bauen und damit höher, mehr Raum je Bodeneinheit nutzen. Dies führt zu Verdichtung, gegebenenfalls Nachverdichtung.
Die jüngere Generation hat andere Lebenspläne. Sie wünscht sich Wohnen, Arbeiten und Freizeit in unmittelbarer Nähe, keine Abhängigkeit vom Individual-Autoverkehr. Insbesondere nach den Erfahrungen der Pandemie, der zu erwartenden Dekommerzialisierung der Innenstädte, bieten sich hier neue Chancen. Zudem zwingt uns die Umweltkrise zum Handeln. So werden recycelbare, energetisch sinnvolle Baustoffe zum Einsatz kommen. Heute ist dies bevorzugt Holz, jedoch werden wir auch hier Ersatz finden müssen.
Dies alles spricht für die Umnutzung vorhandener Strukturen, die Transformation kommerzieller Flächen in Wohnraum, Nachverdichtung und Aufstockung mit leichten Materialien. Und aufgrund des Zeitfaktors und kaum vorhandenen Raums für Baustellen ist ein Wandel hin zu modularer Technik angezeigt.

Stefan Behnisch
Gründer und Partner von
Behnisch Architekten, Stuttgart
behnisch.com

Florian Kaiser und Guobin Shen
Atelier Kaiser Shen Architekten PartGmbB, Stuttgart
atelierkaisershen.de

Unser Ziel ist es, bei all unseren Wohnungsbauprojekten auf weniger Wohnfläche mehr Qualität anzubieten. Das Mikrohofhaus ist hierbei als radikales Statement zur Wohnraumverkleinerung und als Appell zur Bebauung von unwirtlichen Grundstücken zu verstehen. Über viele Jahrzehnte ist der Wohnraum pro Kopf in Deutschland fast ununterbrochen gestiegen und stagniert aktuell auf hohem Niveau. Die Nachverdichtung der Stadt kann nur durch eine Reduktion des individuellen Wohnraums gelingen. Hierzu forschen wir in unserem Atelier zu verschiedenen Themenbereichen wie das Wachsen und Schrumpfen von Wohnungsgrundrissen, sowie die Reduktion der individuellen Wohnfläche zugunsten von Gemeinschaftsflächen.“

Die aktuelle breite Debatte um den Wohnraum ist wichtig
und an  der richtigen Stelle. Letztendlich muss genug gesellschaftliches  Bewusstsein für die Problematik entstehen und daraus ausreichend politischer Wille. Mit diesem Rückenwind müssen Bebauungspläne für Nachverdichtung auch gegen Widerstände aufgestellt werden. Die architektonischen und städtebaulichen Konzepte
dafür sind teilweise seit Jahrzehnten vorhanden.
Ein gutes Beispiel ist hier die Stadtausstellung auf dem Gelände der Bundesgartenschau Heilbronn. Hochwertige Freiräume werden  hier mit einer angemessenen urbanen Dichte kombiniert. Dabei wird ökologischen und sozialen Anforderungen ebenso entsprochen wie wirtschaftlichen oder baukulturellen. Eben ein Modell einer klassischen europäischen Stadt für das 21. Jahrhundert.

Frank Leubner
Architekturbüro Ludwig, Stuttgart
ab-ludwig.de

Prof. Fabienne Hoelzel,
Founding-Director FABULOUS URBAN, Zürich
Member of the Board of SIA’s International Section,
Professorin für Architektur Staatliche Akademie
der Bildenden Künste, Stuttgart
www.fabulousurban.com

Wir sollten Covid-19 als Chance nutzen, um über unsere Lebens-, Gesellschafts- und Wohnformen nachzudenken.
Die letzten 12 Monate haben gezeigt, dass wir anders leben können. Die Digitalisierung bietet uns die Möglichkeit, bestimmte Lebensbereiche kompakter und diese gleichzeitig mit mehr Sorgfalt zu gestalten. Die Mobilitätswende wird hoffentlich schnell umgesetzt werden und die Chance eröffnen, große Infrastrukturräume rückzubauen resp. Mensch und Natur (wieder) zur Verfügung zu stellen.
Covid-19 hat gezeigt, wie wichtig flexible und ästhetisch ansprechende Wohnungen sind. „Bürgerliche“ Wohnformen mit strikten Raumnutzungen werden weniger relevant sein, die Verzahnung mit den Außenräumen über Balkone, Loggien, Höfe, Gärten etc. dafür umso wichtiger werden. Covid-19 könnte aus dieser Perspektive wie eine Art von Katalysator werden, endlich all diese Dinge umzusetzen, für die die Zeit schon länger reif ist. Die in Funktionen unterteilte Stadt (Wohnen, Freizeit, Arbeiten, Verkehr), nach wie vor eine Realität in Deutschland und anderswo, könnte schneller überwunden und Nutzungen stärker überlagert sowie flexibler gehandhabt werden. Die Städte würden damit einerseits an urbaner Dichte gewinnen, andererseits würde durch das Wegfallen von Infrastrukturen, die bisher getrennte Nutzungen verbinden, mehr Freiraum generiert, der wiederum höhere Wohndichten erlauben würde. Covid-19 könnte uns, wenn wir intelligent agieren, zu wohnlicheren und damit besseren Städten für alle Menschen verhelfen.

Die Besiedlung von weiteren Grünflächen am Stadtrand mit konsequenter Erhöhung der PKW-Mobilität ist nicht mehr tragbar, Städte können nicht weiter nur nach außen wachsen. Durch den strukturellen Wandel unserer digitalen Gesellschaft bietet sich die Chance, neue Strategien für den Umgang mit dem Bestand und seiner Weiterentwicklung zu definieren, und die Stadtquartiere so zu gestalten, dass alle Funktionen und Lebensbereiche koexistieren und menschliche Nähe schaffen. Das Stadtquartier als neues Dorf. Dafür sind neue Stadtplanungsmethoden notwendig: Das Verständnis der Tages- und Sonneneinstrahlung als Verdichtungsmaßstab, die Ökologie des Bauens und der Wille zum öffentlichen Stadtraum, der
Funktionen und menschliches Leben vereinen.

Michele Grazzini
g2o GmbH, Stuttgart
www.g2o-arch.eu

Stephan Obermaier
g2o GmbH, Stuttgart
www.g2o-arch.eu

Als Nachverdichtung bezeichnet man u.a. die Erhöhung der Kubatur innerhalb bereits bestehender Bebauung. Dadurch wird die Bebauungsdichte, also der Wohnraum je verbauter Fläche, höher, was einer Zersiedelung entgegenwirkt und einen Erhalt von Natur verspricht.

Ein Vorteil von mehr Menschen pro m² Grundfläche ist die Nutzung bereits vorhandener Infrastruktur – die neuen Räume müssen nicht erst erschlossen werden. Vorhandene Infrastruktur wird besser genutzt und die Fixkosten können auf eine größere Zahl von Bewohnern umgelegt werden. Man muss aber bei der Verdichtung von Wohnraum genau hinschauen, Licht und Luft müssen für die Bewohner erhalten bleiben und vor allem das lebensnotwendige Grün. Forschung, Simulationen und Modelle müssen hier die Planung unterstützen. Das Verständnis von Tageslicht und Sonneneinstrahlung ist ein Schlüssel, um in städtischen Gebieten höhere Dichten zu erzielen und gleichzeitig die Auswirkungen auf die Umgebung zu begrenzen.

Die DIN EN 17037 soll in ganz Europa ausreichende Tageslichtversorgung in Gebäuden sicherstellen und angenehme und gesunde Räumlichkeiten für die Nutzer schaffen. Dabei geht sie deutlich über die bestehenden Anforderungen der Landesbauordnungen hinaus und legt statt konkreter Fenstergrößen Vorgaben für die Tageslichtbedingungen im Innenraum fest.

Die Regeln zur Verdichtung müssen neu verfasst werden.
Es braucht hier analytische Kraft, Mut und Phantasie. Der freiheitliche Geist und die Notwendigkeit zur Veränderung sind die Triebfedern.

Die energetische Optimierung der Gebäude, Optimierte
A/V-Flächen, die Reduzierung und effizientere, intelligente Hüllflächen sind Parameter, wie sich Städte sinnvoll verdichten lassen. Die technischen Möglichkeiten heutzutage sind umfangreicher als jemals in der Geschichte der Menschheit, auch Dank dem Einsatz von Computern.