Architektur schafft
nachhaltig Wohnraum
Wegweisende Wohnbauprojekte in der Region
Jahrzehntelang galten die Schwaben als vorbildlich – wenn nicht sogar als übereifrig, wenn es um die Schaffung von Wohnraum ging. Wobei dies vor allem für die Kategorie Ein-/Zweifamilienhaus galt. Doch mittlerweile ist selbst, oder gerade die Region Stuttgart vom Wohnraummangel geprägt. Doch langfristig gesehen genügt es nicht allein, exklusive Immobilienprojekte zu schaffen, die nur eine exklusive Klientel bedienen. Auch sehen sich Architektinnen und Architekten nicht mehr als Reißbrett-Dienstleister und Planer für günstige Wohngebäude ohne jeglichen Aspekt auf den hohen CO2-Print. An ihnen liegt es nicht, denn je anspruchsvoller die Anforderungen unserer Zeit, desto kreativer scheinen die Lösungen zu werden. Die Ansprüche an den modernen Wohnungsbau und die Architektur ist umfassender. Klimaneutralität, Nachhaltigkeit und Diversität der Bewohner hinsichtlich ihrer sozialen Struktur.
Die „Neue Weststadt“ in Esslingen
Im schwäbischen Esslingen am Neckar, in unmittelbarer Nähe zum Esslinger Bahnhof, im Westen der Stadt, wurde das Gelände des alten Güterbahnhofs zum Experimentierfeld.
Hier entsteht im Rahmen der Förderinitiative „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“ ein innovatives Wohn- und Geschäftsquartier, in dem innerstädtische CO2-Neutralität erforscht wird: das LOK.West. Dafür wurde das Klimaquartier mit dem Innovationspreis Reallabore 2022 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz in der Sonderkategorie „Nachhaltigkeit“ ausgezeichnet.
Mit LOK.West errichtet das Immobilienunternehmen RVI bis 2025 fünf Wohn- und Geschäftshäuser mit sowohl privaten als auch öffentlichen Grünflächen und Höfen. Insgesamt ca. 500 moderne Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen mit einer Größe von bis zu 150 Quadratmetern zu fairen Preisen sind geplant. 30 Prozent der Quartiersnutzung ist für Gewerbe vorgesehen.
Die Architektur ist von der Eisenbahn geprägt: Klinkersteine, Stahl und Glas vereinen historische und moderne Aspekte. Das Projekt umfasst vier individuelle Gebäudekomplexe. Jedes ist für sich ein individueller Architektenentwurf, der sich an einem Dachkonzept orientiert. Die städtebauliche Qualität wird durch eine fachkundige Jury garantiert. Die hellen, lichtdurchfluteten Wohnungen sind mit Balkon oder Loggia ausgestattet.
Unterschiedlich gestaltete öffentliche Plätze mit Begrünungen sollen zum Verweilen einladen. Der „Zollamtsplatz“ liegt am nächsten zum Bahnhof. Hier steht das denkmalgeschützte Zollamt. Im Zentrum von LOK.West befindet sich der Platz „Am Drehkreuz“ mit einem nachgebauten Drehkreuz und einem Kinderspielplatz in Form einer Eisenbahn. Der dritte Platz soll an den geplanten ikonischen Hochpunkt angepasst werden: den „Crystal Rock“. So nennt sich das architektonisch außergewöhnliche, zwölfgeschossiges Hochhaus, das von dem Rotterdamer Architektenbüro MVRDV für die RVI entworfen wurde. Die Idee der niederländischen Architekten hinter dem mehr als 40 Meter hohen Gebäude ist es, eine dreidimensionale, teilweise begehbare Fassade entstehen zu lassen, die zugleich die Topografie und die Esslinger Gemarkunsgrenzen visualisiert. Eingeschnittene Würfel durchbrechen den Baukörper und können von den Bürgern als Treppen, Plattformen oder Podeste genutzt werden. Eine Passage soll das Hochhaus über die Bahngleise mit dem geplanten Neckaruferpark verbinden.
Kernstück des gesamten, innovativen Stadtquartiers aber ist das energetische Versorgungskonzept, das eine Kopplung der Sektoren Strom, Wärme, Kälte und Mobilität vorsieht. Dafür ist in der Quartiersmitte eine zentrale Versorgungsinfrastruktur mit einer Energiezentrale errichtet worden. Das Herzstück dieser Zentrale ist ein Elektrolyseur, der überschüssigen erneuerbaren Strom (lokaler und überregionaler Erzeugung) in Wasserstoff (H2) umwandelt und die Energie auf diese Weise speicherfähig macht. Der erzeugte regenerative Wasserstoff wird dann im Bereich Mobilität und Industrie genutzt und kann zusätzlich in das bestehende Erdgasnetz eingespeist werden. Hierzu wurde eine H2-Abfüllstation, eine H2-Tankstelle und einer Gasnetzeinspeise-Station im Quartier errichtet. Wird der Strom im Stadtquartier benötigt, lässt sich Wasserstoff in Blockheizkraftwerken wieder schnell und einfach rückverstromen.
Mit dem Wohn- und Geschäftshaus Desiro sind seit Juli 2022 drei von fünf geplanten Lok.West-Gebäuden mit DGNB-Zertifikat ausgezeichnet. Ein DGNB-Vorzertifikat für das gesamte Stadtquartier hat den Zielkorridor für die Gebäudeperformance von Beginn an für alle Baubeteiligten abgesteckt; zertifiziert wird jedes Gebäude einzeln.
Innovative Ideen gibt es auch beim Thema Mobilität: Hier gibt es Schnittstellen zwischen der stationären Energieinfrastruktur und der Mobilität im Quartier durch das Angebot von Ladestationen, die von den Anwohnern genutzt werden können. Auch eine Kooperation mit den städtischen Verkehrsbetrieben gibt es: Eine Kopplung zum Gleichstrom-Oberleitungsnetz in Esslingen, an dem oberleitungsgebundene Elektro-Hybridbusse fahren, um überschüssige Strommengen aus dem Quartier oder der Bus-Rekuperation austauschen zu können. Der Verein für emissionsfreie Mobilität Esslingen (in Gründung) will mit drei Wasserstoff-PKW „Nexo“ von Hyundai und 4 E-PKW „Zoe/Kangoo“ von Renault für quartierseigenes, stationsbasiertes Carsharing sorgen.
Für die Einbindung der Nutzer*innen im Quartier sind diverse Maßnahmen geplant. So gibt es z. B. für die Bewohner*innen eine App, die als Nutzerinterface entwickelt wurde, um zeitnahe zielgerichtete Informationen zum Energieverhalten oder Tarifen zu erhalten. Die erfolgreiche Umsetzung des für die städtebauliche und ökologische Entwicklung der Stadt Esslingen wichtigen Projekts wird professionell durch ein technisches und sozialwissenschaftliches Monitoring
begleitet.
1: Die „Neue Weststadt“ in Esslingen; 2/3: der Innenhof ist begrünt, mit Spielplatz, die Wohnungen
mit Balkon oder Loggia ausgestattet; 4: Entwurf des geplanten „Crystal Rock”; 5: Photovolaik auf dem Gebäude „Béla”; 6: der Elektrolyseur, das Herzstück der Energieversorgung im Quartier, wird regelmäßig von Fachleuten geprüft und gewartet (unten); 7: Fahrradstation Pedales; 8: Brennstoffzellenanzeige im PKW mit Verbrauchinformationen und 9: Zapfsäule für Wasserstoff-PKWs.
Fotos: Maximilian Kamps, Agentur Blumberg GmbH; RVI GmbH; MVRDV
Das „Half-Long Charles“ in Ludwigsburg.
Barrierefreie Mietwohnungen – nur eine hehre Vorstellung der Medien? Am westlichen Rand von Ludwigsburg wurde es beindruckend realisiert. In Bahnhofsnähe steht seit kurzem ein Miniquartier aus Wohn- und Geschäftshäusern: das „Half-Long Charles“, auch kurz HLC genannt, wobei „Charles“ für Karl, den Straßennamen, steht. Gelungener wie der Name ist die Architektur. Verantwortlich hierfür zeichnet sich das Stuttgarter Büro Steimle Architekten aus. Und ausgezeichnet wurde das Ensemble aus drei vier- und fünfgeschossigen Wohn- und Geschäftshäusern beim Wettbewerb im neu erschienen Band „Ausgezeichneter Wohnungsbau“ des Callwey Verlags.
Das vordere Gebäude an der Karlstraße wird von der Immobilienfirma Strenger als neuer zentraler Firmensitz genutzt. Außerdem bietet es Fläche für 18 zentral gelegene Mietwohnungen. Die Strenger Holding GmbH, die sich schon lange auf der Suche nach einem neuen, repräsentativen Firmensitz befand, ist auch Bauherrin des Projekts. Was lag da näher für eine innovative Immobilienfirma, als ein anspruchsvolles Bauprojekt zu starten. Zwei weiter dahinterliegende Gebäude umfassen insgesamt 18 barrierefreie Mietwohnungen auf die drei bis fünf Geschosse verteilt, die von der Tiefgarage aus mit Aufzügen direkt zu erreichen sind.
Die einzelnen Baukörper halten zueinander Abstand und sind so angeordnet, dass ein Maximum an Sonneneinstrahlung für alle Wohnungen und Büros zugleich kommt.
Die Klinkerfassaden an allen Erdgeschosszonen nehmen den Baustil der unmittelbaren Nachbarschaft auf, vorwiegend Backsteinfassaden aus der Gründerzeithäuser. Auch die hochformatigen Fenster spielen dabei eine integrierende Rolle.
Alles fügt sich zusammen und wirkt dennoch spannend. Das HLC ist ein guter Beitrag zum viel diskutierten Thema Nachverdichtung in städtischen Räumen. Oder wie es Thomas Steimle deutlich macht, worauf es tatsächlich ankommt: „Innerstädtische Nachverdichtung ist mehr als Lücken füllen – durch das Vorgefundene inspiriert entsteht, mit den passgenau eingefügten Stadtbausteinen eine neue Gesamtheit.“ So kann attraktiver Wohnraum entstehen, wenn ein schnöder Hinterhof mit Autoparkplatz architektonisch kreativ bespielt wird.
Das Bahnhofsviertel um das HLC gilt nicht gerade als gutbürgerliche Nachbarschaft. Das wertet den Mut der Firma Strenger als Bauherrin auf, dieses Projekt dort anzusiedeln. Doch das HLC wertet jedes Viertel auf und könnte so neue Investoren inspirieren. So gesehen ist das Mini-Quartier auch als ein städtebaulich gelungenes Projekt zu werten. Denn anders gesehen ist die Infrastruktur perfekt: Supermärkte und Restaurants um die Ecke bedienen die Konsumwünsche und die öffentlichen Verkehrsmittel machen ein Auto überflüssig.
Strenger-Haus in Ludwigsburg mit den dahinterliegenden Wohngebäuden der „Half-Long Charles“.
Fotos: Strenger
Die „Calwer Passage“ in Stuttgart
Einst schicke Einkaufspassage aus Glas und Marmor – und Hommage an die Vittorio Emanuele II. Passage in Mailand –, dann drei Jahre lang beliebte Fluxus-Location, lag die Calwer Straße lange Zeit als Dauerbaustelle im Dornröschenschlaf.
Erwacht ist sie nun in begrünter Architektur: in alter Exklusivität als Einkaufspassage und als nationales und internationales „Leuchtturmprojekt“ urbaner Architektur. Ein begrünter Ort mitten in der Stadt: Immergrün, Winterjasmin, Strauch-Efeu und Clematis wachsen an der Fassade, ein Mini-Mischwald steht auf dem Dach. Die Gebäudevegetation trägt einen Teil dazu bei, das Stadtklima und die CO2-Werte in der Stuttgarter Innenstadt zu verbessern. Dabei wird sich das Erscheinungsbild der Dachgärten und Fassaden den Jahreszeiten angepasst verändern. Rankseile, ein spezielles Substrat, dazu ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem unterstützen bereits seit Sommer 2019 die rund 2.000 Pflanzgefäße, damit die Pflanzen bei der Fertigstellung des Gebäudes bereits eine gewisse Größe haben. Die begrünte Fassade dient zudem als Kältespeicher. Sie reduziert den Wärmeeffekt der Innenstadt und versorgt sie mit feuchter Luft. Zudem fördert sie die Biodiversität. Gerade die schwierigen klimatischen Verhältnisse in Stuttgart durch seine Kessellage kommt dem Projekt besondere Bedeutung zu ,in der Diskussion, wie man dem Klimawandel begegnen kann und Innenstädte sich weiterhin als urbane Orte des Wohnens gewährleisten können. Das richtungsweisende Projekt wurde vom Düsseldorfer Architekturbüro ingenhoven associates zusammen mit einem interdisziplinären Team aus renommierten Experten wie unter anderem Prof. Albert Reif (Universität Freiburg) und Prof. Karl-Heinz Strauch (Beuth Hochschule für Technik in Berlin) und nicht zuletzt mit einem mutigen Bauherrn auf die Beine gestellt und realisiert.
Die Calwer Passage in Stuttgart Mitte: Immergrün, Winterjasmin, Strauch-Efeu und Clematis wachsen an der Fassade, ein Mini-Mischwald steht auf dem Dach.
Fotos: inghoven architects
Innovative Projekte im Rahmen der IBA’27
Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 2027 (IBA’27) und dem zentralen Thema „Produktiven Stadtregion“ sind für die Region Stuttgart eine Vielzahl an zukunftsorientierter Projekte geplant.
Auf dem Areal „Quartier Böckinger Straße“ im Stuttgarter Norden soll ein sozial durchmischtes Stadtquartier in einer architektonisch hochwertigen Dichte entstehen – mit angemessener baulicher Vielfalt und hohen stadträumlichen Qualitäten. Das Quartier ist eng mit dem bestehenden Stadtteil Rot und den angrenzenden Grün- und Naherholungsräumen verknüpft. Die städtische Wohnbaugesellschaft SWSG will hier experimentelle Bautypologien und Wohnformen realisieren, auch in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Gesellschaft EVA, die ein Wohnheim für alleinstehende Männer in sozialen Schwierigkeiten auf dem Gelände betreibt. Preiswertes Bauen mit gleichzeitig beispielhaft gestalteter Architektur sind dabei wichtige Aspekte.
Ebenso ist in Winnenden auf einer Fläche von 5,5 Hektar ein dichtes, gemischt genutztes Quartier geplant. Das „Produktive Stadtquartier Winnenden“ liegt im Südwesten der Stadt, wo Obstanbau und Landwirtschaft mit Gewerbe zusammentreffen. Hier soll ein neues Viertel entstehen, das wenig Fläche verbraucht und gleichzeitig mehr Wohnraum und Gewerbeflächen erschließt, die sich gut in die Umgebung einpassen.
Landwirtschaft trifft Industrie: Im Westen der Stadt Fellbach liegen zwei Standorte urbaner Produktion in direkter Nachbarschaft. Unter dem Titel „AGRICULTURE meets MANUFACTURING“ möchte die Stadt Fellbach dieses Gebiet mit der IBA’27 neu ordnen. Es geht unter anderem um Möglichkeiten einer Durchmischung und Nachverdichtung des Gewerbegebiets sowie um die Stärkung der urbanen Landwirtschaft.
Das Stöckach im Stuttgarter Osten gilt schon lange als städtebauliches und architektonisches Problemviertel. Das freiwerdende Werksgelände der EnBW bietet nun vielfältiges Potenzial für ein neues integriertes Quartier: Umgeben von einer dichten Blockrandbebauung, liegt es zugleich in direkter Nähe zu zwei Parks und besitzt eine gute Nahverkehr-Anbindung. Auf rund 60.000 Quadratmeter Wohnfläche sollen rund 800 Wohnungen entstehen, mit breiten Angeboten für soziale Treffpunkte, Nahversorgung, Gesundheit und umweltfreundliche Mobilität. Das Konzept „Neuer Stöckach“ ist, ein lebendiges, dichtes Gefüge zu schaffen mit Wohnraum für unterschiedliche Gesellschaftsschichten. Ein autofreies Quartier mit sozialer Durchmischung und innovativen Arbeitswelten soll entstehen. Im Fokus der Architektur stehen ressourcenschonendes Bauen, innovative Nutzungskonzepte sowie Fragen zur Energieautonomie und Digitalisierung. Grundlage für die Umsetzung ist der Entwurf des internationalen Netzwerkbüros tong+ aus Frankfurt a.M. / Hanoi und Hannes Hörr Landschaftsarchitekten aus Remseck, das den unter Beteiligung der IBA’27 durchgeführten Wettbewerb für sich entschieden hat.
Dies sind vier von sechzehn bisherigen IBA’27 Projekten. Dazu sind noch 79 weitere Vorhaben im IBA’27-Netz geplant. Eine Projektübersicht finden Sie unter: www.iba27.de
©Autor: Klaus Bossert