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„City Puls“

eine gelungene Operation an der Aorta der Stuttgarter Südstadt

Die Broken-Windows-Theorie von Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling besagt, wenn eine zerbrochene Fensterscheibe nicht innerhalb einer Woche oder in kurzer Zeit repariert wird, dies der Beginn der Ghettoisierung eines Viertels bedeutet.

Dass die Entwicklung auch in die andere Richtung funktioniert, hat das städtebauliche Projekt „City Puls“ im Stuttgarter Süden gezeigt. Das Gebiet um die Tübinger- und Hauptstätter Straße, auf Höhe der Fangelsbachstraße zwischen dem
Österreichischen Platz und dem Marienplatz gelegen, galt jahrelang als „sehr zerfallen“.
2011 wurde das Architekturbüro Ludwig beauftragt, die Stadt an dieser Stelle zu „reparieren“. Das Ziel des Entwurfs war es einerseits, das Viertel wieder zu beleben sowie zwischen den modernen Stilen der Bürogebäude und der Gebäude der Gründerzeit zu vermitteln.

Demzufolge wurde, in enger Abstimmung mit der Stadt Stuttgart, ein parzelliertes Gebäudeensemble geschaffen, welches sich durch die Angleichung der Traufhöhen, Dachformen, Gliederung der Baukörper und Nutzung kennzeichnet. Alle Gebäude besitzen die Dreiteilung in Sockel, Hauptkörper und Dach, wie die Architektur der Gründerzeit geprägt war.
Bei der Nutzung wurde auf die städtischen Gegebenheiten eingegangen. So befinden sich an der Hauptverkehrsstraße, der Hauptstätter Straße, hauptsächlich Büros und in der Seiten-
straße sowie im Hinterhof die einzigen reinen Wohngebäude.
Die Lage des Projekts an einer der Hauptverkehrsadern im Stuttgarter Süden erforderte ein spezielles Augenmerk auf den Städtebau und den Emissionsschutz.
Die Sicherung der Wohnqualität erforderte besondere Maßnahmen für den Emissionsschutz. Deshalb wurde an den notwendigen Stellen eine Abschirmung vor Lärm und Emissionen eingeplant und in die Gesamtgestaltung einbezogen.
Hierzu wurde ein spezieller Schallschutz vor den Fenstern entwickelt: Aus dem Inneren der Wohnungen heraus betrachtet transparent, fungiert er zusätzlich als Filter, da der bedruckte Schallschutz nur bedingt Blicke von außen nach innen zulässt und so eine angenehme Privatheit ermöglicht.

Fotos: AB Ludwig

Um den Mangel an öffentlichen Freiflächen auszugleichen, wurden für einen Teil der Wohneinheiten großzügige Terrassen und Balkone entworfen, sodass sich die Bewohner auch außerhalb ihrer geschlossenen Räume entspannt mit
hoher Qualität aufhalten können.
Gleichzeitig bietet das Stuttgart City Puls seinen Bewohnern auch ein Spektrum an qualitativen Gemeinschaftsflächen innerhalb des Quartiers. Das Neubauprojekt mit 61 Wohnungen (inkl. 19 möblierten Mietwohnungen mit Service), drei Gewerbeflächen und einer Tiefgarage bildet im Kontext der kleinteiligen Bestandbebauung ein ausgewogenes Ganzes. Der Fokus bei der Planung lag auf einer breiten Zielgruppe, um durch eine angemessene Durchmischung ein harmonisches Zusammenleben zu begünstigen. So entstand ein ausgewogenes Verhältnis an bezahlbaren Mietwohnungen und exklusiven Eigentumsimmobilien.
Die Blockrandbebauung wurde durch fünf Gebäude geschlossen und nachverdichtet. Obwohl ca. die Hälfte des Blocks für Neubebauung zur Verfügung stand, entschied man sich für eine parzellierte Bebauung.
Die bestehenden Gebäude der Tübinger Straße sind durch Geschäfte in der Sockelzone mit darüber liegenden Wohnungen gekennzeichnet. Dieses klassisch-europäische System wurde auf die Neubauten übertragen. Dabei wurde in der Wohnnutzung explizit auf die urbanen Ansprüche der heutigen Zeit geachtet. So sind unterschiedlichste Wohnungsgrundrisse entstanden, die den vielfältigen Lebensentwürfen heutiger Stadtbewohner Raum bieten und dem Wunsch nach Individualismus entgegenkommen.

Fotos: AB Ludwig

Dies spiegelt sich auch in der Gestaltung der einzelnen Baukörper wider. Obwohl das Gesamtensemble visuell als Einheit verstanden wird, bleibt jeder Baukörper für sich einzeln ablesbar und schafft somit das notwendige Identifikationspotenzial.
Damit wird zugleich gestalterisch das Parzellensystem der klassisch-europäischen Stadt aufgegriffen und in die heutige Zeit überführt. Thematisch wurde in der Kubus- und Fassadengestaltung nach einer Verbindung zwischen modernen und gründerzeitlichen Themen gesucht. Die Baukörper sind mit unterschiedlichen geschwungenen oder floralen Themen versehen, was einerseits historische und bis heute beliebte Verzierungsstile aufgreift, aber durch ihre meist horizontale und großformatigere Ausprägung auf eine moderne Ästhetik verweist.

Besondere Bedeutung kommt dem Eckgebäude Tübinger Straße/Fangelsbachstraße zu, da es genau an der Zäsur zwischen Büronutzung und Wohn-/Geschäftsnutzung sowie moderner und historischer Ästhetik steht.
Durch seine ausladenden und geschwungenen Balkonbrüstungen nähert sich das hell gestaltete Gebäude in seiner Ästhetik den meisten direkt angrenzenden Bürogebäuden an, ist jedoch architektonisch in seiner Kubatur und der oben genannten Dreiteilung eher der Gründerzeit zugehörig. Aus der Stadt kommend bietet es einen hellen Auftakt zu dem darauffolgenden Gebiet mit seinen Bestandsgebäuden aus der Gründerzeit.

Fotos: AB Ludwig

Das Projekt „City Puls“ fügt sich nicht nur städtebaulich in die vorhandene Architektur. Das vorgegebene soziale Projektziel kann man ebenso als durchaus gelungen bezeichnen, angesichts dessen, wie sich die Tübinger Straße und das Umfeld heute zeigt. Gewiss ist „City Puls“ nicht allein dafür verantwortlich, doch hat es maßgeblich – mit weiteren anderen Faktoren – dazu beigetragen, dieses Quartier wieder zu beleben. So ist das mit „Broken-Windows“, die sich lohnen, klug „repariert“ zu werden.
Ausgezeichnet wurde es dafür mit dem IWS Award sowie einer „Special Mention“ des German Design Awards.

© Autor: Klaus Bossert