Nordisches Wohndesign passt in die Gegenwart. Es ist unprätentiös, an Nachhaltigkeit orientiert und transportiert ein Gefühl von Harmonie und Ausgleich. Zu den klassischen skandinavischen Herkunftsländern Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland gesellen sich jetzt junge Designer aus den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Eine Stuttgarterin bringt ihre Möbel und Wohnaccessoires nach Deutschland.
Tischdecke STONE WASHED von LinenMe
Wollplaids von KELPMAN TEXTILE
Regal COMB von Jaanus Orgusaar
Die Liebe der Deutschen zum Design aus dem Norden ist ungebrochen: Seit vielen Jahrzehnten prägen die Skandinavier hierzulande erfolgreich die Möbeltrends. Bereits in den 1920er- bis 1960er-Jahren schufen sie Design-Ikonen von zeitloser Schönheit: Man denke zum Beispiel an den Egg-Chair des Dänen Arne Jacobsen, die PH-Leuchte seines Landsmanns Poul Henningsen, den Tulpenstuhl des Finnen Eero Saarinen oder den
Lamino-Sessel des Schweden Yngve Ekström.
Lagom: ein skandinavisches Lebensgefühl
Was macht nordisches Design so erfolgreich? Sicherlich ist es seine helle Leichtigkeit, seine schlichte Naturverbundenheit und seine unkomplizierte Funktionalität, die gut ankommen. Ausschlaggebend ist aber ebenso, dass der skandinavische Wohnstil mehr transportiert als gutes Design. Er steht für ein Lebensgefühl, das heute aktuell ist wie nie. Die Schweden haben ein Wort dafür: Lagom (gesprochen: Logum). Es lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen und bezeichnet eine Lebensform, die Maß hält, die auf Ausgleich und Balance bedacht ist. Lagom, das heißt nicht zu viel und nicht zu wenig und kann sich auf alle Aspekte des Lebens beziehen: das Familienleben, die Arbeit, die Freizeit, das gesellschaftliche Miteinander, die Politik und die Umwelt.
Helle Farben, natürliche Materialien
Die Lagom-Haltung drückt sich ebenso im eigenen Zuhause aus: Die ideale Gestaltung beschreitet einen guten Mittelweg zwischen opulenter Fülle und kühler Kargheit. Viel Weiß und gute Beleuchtung sorgen für angenehme Helligkeit in den Wohnräumen. Das ist in Ländern, in denen dunkle, lichtarme Monate in der Überzahl sind, besonders wichtig. Das reine Weiß kombinieren die Skandinavier gerne mit der warmen Note heimischer Hölzer und der angenehmen Haptik natürlicher Textilien aus Wolle, Filz und Leinen. Zurückhaltende Natur-, Braun- und Grautöne prägen daher die Interieurs. Bewusst ausgewählte Bilder, Accessoires und Dekostoffe mit einfachen grafischen, oft der Natur entlehnten Mustern setzen farbige Akzente.
Zurückhaltende Schönheit hochwertiger Handwerkskunst
Eine Wegwerfmentalität passt nicht zu dieser nordischen Tradition: Die einzelnen Möbelstücke sind langlebig und überzeugen vielfach mit ihrer ausgewogenen, eleganten Linienführung. Oft offenbaren die hochwertigen Objekte durchdachter Handwerkskunst ihre Schönheit erst auf den zweiten Blick. Understatement gehört – nicht nur bei der Wohnraumgestaltung – zum guten Ton. Vielleicht können sich viele Schwaben, denen diese Haltung ebenfalls oft nachgesagt wird, daher besonders gut mit den nordischen
Designideen identifizieren.
Newcomer aus dem Baltikum
Wer Möbel oder Accessoires aus dem Norden erstehen will, denkt bislang vor allem an Hersteller aus Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Dabei können die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen, längst mithalten. „Wer mal in Tallinn, Riga oder Vilnius unterwegs war, spürt den kreativen Spirit dieser Städte und entdeckt zahllose Designschmieden, die die handwerklichen Traditionen ihrer Länder mit pfiffigen, modernen Ideen verbinden“, sagt Brigitta Ziegler. Die gebürtige Estin lebt in Stuttgart und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den deutschen Markt für hochwertiges Design aus dem Baltikum zu erschließen. Alle Objekte, die sie vertreibt, werden aus regionalen Materialien von kleinen Unternehmen in überschau-
baren Stückzahlen vor Ort gefertigt.
Erfolg auf dem deutschen Markt
Um Fans nordischen Designs in Deutschland zu erreichen, eröffnete die studierte Soziologin im Internet den Baltic Design Shop. „Was das baltische Design besonders macht? Die Designer holen sich ihre Inspiration aus der Natur. Sie gehen in den Wald oder ans Meer und bringen von dort ihre Ideen mit“, erklärt Brigitta Ziegler. Ein Beispiel dafür: Die estnische Designerin Monika Järg entwarf einen naturfarbenen, getufteten Wollteppich, in den sie runde graue und schwarze Filzkugeln integrierte. Preiselbeeren im Moor hätten sie zu der Gestaltung angeregt, sagte die Designerin. Das Design ist nicht nur schön, sondern auch funktional: Beim Begehen massieren die Kugeln sanft die Fußsohlen. Ihre Kollegin Maria Rästa, ebenfalls aus Estland, nahm – gut erkennbar – pickende Vögel zum Vorbild für ihren kleinen geschwungenen dreibeinigen Tisch oder Hocker. „Das baltische Design ist in der Regel sehr puristisch, aber gleichzeitig oft mit einer Prise Humor gewürzt“, lacht die Design-Expertin aus Stuttgart, die neben Möbeln auch Lampen und Wohnaccessoires in ihrem Online-Shop führt. Die Leuchte Kabo des litauischen Labels Indi sei ein gutes Beispiel für eine weitere Besonderheit des baltischen Designs. Die Hängelampe wirkt, als sei sie aus schwerem Beton hergestellt. In Wahrheit besteht sie aus Recycling-Papiermaché und ist daher federleicht. „Nachhaltigkeit und Einfachheit gehören für viele unserer Designer zum Konzept“, sagt Ziegler.
Brigitta Ziegler ist mit ihrem 2014 eröffneten Online-Shop so erfolgreich, dass sie jetzt die nächste Stufe erklomm. Seit Dezember 2018 gibt es einen Ausstellungsort in Bruchsal im Zentrum für Showroom & Design in der Karlsruher Straße 2. Besucher, die vorab unter 0160-96243885 einen Termin vereinbaren sollten, finden dort die Baltic-
Design-Shop-Bestseller.
Dazu gehört zum Beispiel das Wandregal Comb des estnischen Designers Jaanus Orgusaar. Mit seiner konvexen, sechseckigen Form, die von schmalen horizontal und diagonal verlaufenden Leisten in Dreiecke unterteilt wird, mutet es wie eine Wandplastik an. Bei ihrer Entwicklung habe er sich von biologischen Strukturen leiten lassen, verriet der Designer.
Wie wohnen Menschen im Norden?
Prägen solche Objekte mit ihrem natürlichen Charme und ihrer pfiffigen Leichtigkeit die Interieurs der Menschen im Baltikum und in Skandinavien? Es sei dort wie hier, sagt die Insiderin. „Die meisten Menschen kaufen ihre Einrichtungsgegenstände in den großen Möbelhäusern und kombinieren, was ihnen gefällt. In Estland beobachte ich, dass sich der nordische Stil eher in den Landhäusern findet, die viele Städter besitzen. Bei der Einrichtung dieser alten Bauernhöfe setzen sie auf traditionelle Elemente. Auf den Böden liegen zum Beispiel vielfach gewebte Flickenteppiche. In der Kombination mit einfachen Holzmöbeln sowie mit natürlichen, warmen Materialien wie Wolle und Filz entsteht häufig eine Art Ethno-Stil.“ Im Allgemeinen lieben die Balten helle Räume, die sie offen und gemütlich gestalten. Auf Dinge, die zu luxuriös oder protzig wirken, verzichten sie lieber. „Die Esten, Letten und Litauer mögen es praktisch und bequem“, sagt Brigitta Ziegler. Damit ähneln sie den Bewohnern der skandinavischen Länder sehr.
Hocker -Beistelltisch TIBU von Maria Rästa Design
Pendelleuchte KABO von Indi
Tablett BEAN von Namuos
Buchtipps
Dorothea Gundtoft, Neues nordisches Design
In kurzen Interviews stellte die Autorin unter anderem 50 aufstrebende Designer aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland und Island vor. DuMont Verlag, 34,00 Euro
Michael Dumiak, Woods and the Sea: Estonian Design and the Virtual Frontier
Der Autor stellt zahlreiche Designer aus Estland vor und nimmt den Leser mit in ihre Studios.
Der Titel des englischsprachigen Werks bezieht sich auf die Inspirationsquellen der Designer: Die Wälder und das Meer. Black Dog Publishing, £ 29,95
Linktipps
Jannis Ellenberger, Designer aus Bremen, orientiert sich am nordischen Stil.
Im Gespräch gibt er Einblicke in seinen Schaffensprozess. Bilder zeigen, wie er selber lebt.
www.ellenbergerdesign.de/im-gespraech
Hanne Willman, Designerin in Berlin und Lehrbeauftragte in Dessau, spricht
über ihre (nordischen) Design-Inspirationen und ihre Zukunftspläne.
www.connox.de/behind-the-scenes/design-interview-hanne-willmann.html